Das Syn­drom

Das Dra­vet-Syn­drom ist eine schwe­re früh­kind­li­che, myo­klo­ni­sche Epi­lep­sie. Sie gehört zu den sel­te­nen, gene­tisch beding­ten Enze­pha­lo­pa­thien. Enze­pha­lo­pa­thie meint die Erkran­kung oder Schä­di­gung von Funk­tio­nen, das gan­ze Gehirn betref­fend. Die Aus­prä­gun­gen der Erkran­kung kön­nen sehr unter­schied­lich sein. Myo­klo­ni­en sind unwill­kür­li­che Zuckun­gen von Mus­keln. Sie beglei­ten vie­le neu­ro­lo­gi­sche Erkran­kun­gen, so auch das Dra­vet-Syn­drom.

Ursa­che & Dia­gno­se

Bei cir­ca 80 Pro­zent der dia­gnos­ti­zier­ten Dra­vet-Pati­en­ten lässt sich mit einem Gen­test (mole­ku­lar­ge­ne­ti­schen Ver­fah­ren) eine Muta­ti­on im SCN1a-Gen (auf dem Chro­mo­som 2) nach­wei­sen. Es gibt unter­schied­li­che Muta­ti­ons­for­men, die zu unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen im Krank­heits­bild füh­ren kön­nen. Alle Muta­tio­nen betref­fen jedoch die Funk­ti­ons­wei­se der Natri­um­ka­nä­le in den neu­ro­na­len Zel­len. Dadurch kommt es zu einer Stö­rung der Signal­über­tra­gung im Gehirn und in der Fol­ge zu epi­lep­ti­schen Anfäl­len. Wie es im Detail dazu kommt, wird noch erforscht.

In der Regel tre­ten die ers­ten Anfäl­le zwi­schen dem 3. und 9. Lebens­mo­nat auf, meist in Ver­bin­dung mit einem Anstieg der Kör­per­tem­pe­ra­tur durch war­mes Baden oder einem Fie­ber­an­stieg beim Kind. Häu­fig sind das schwe­re Krampf­an­fäl­le, die beson­ders in Ver­bin­dung mit Fie­ber schlecht zu durch­bre­chen sind und in einem Sta­tus Epi­lep­ti­cus mün­den. Dies ist ein beson­ders lan­ger Anfall, der unbe­han­delt töd­lich enden kann. Daher im Zwei­fel IMMER den Not­ruf wäh­len! Ein EEG ist über­wie­gend nicht weg­wei­send, da es anfangs häu­fig nor­mal ist. Spä­ter tre­ten soge­nann­te „Spike-Wave-Kom­ple­xe“ im EEG auf. Die­se zei­gen aber nur das Anfalls­mus­ter bzw. die Anfalls­be­reit­schaft und sind bei vie­len Epi­lep­sie­er­kran­kun­gen zu sehen. Das MRT ist vor­wie­gend unauf­fäl­lig.

Ver­er­bung

Nur in 10 Pro­zent der Fäl­le wird eine Ver­er­bung durch einen Eltern­teil fest­ge­stellt. In 90 Pro­zent liegt eine Spon­tan­mu­ta­ti­on, also eine zufäl­li­ge, neue gene­ti­sche Vari­an­te vor. Das Wie­der­ho­lungs­ri­si­ko bei nach­ge­wie­se­ner Spon­tan­mu­ta­ti­on ist sehr gering. Bei wei­te­rem Kin­der­wunsch soll­te eine ent­spre­chen­de gene­ti­sche Bera­tung in einem geeig­ne­ten human­ge­ne­ti­schen Insti­tut erfol­gen. Neben dem klas­si­schen Dra­vet-Syn­drom gibt es wei­te­re Vari­an­ten von Muta­tio­nen im SCN1a-Gen. Die­se füh­ren vor­ran­gig zu Fie­ber­krämp­fen, aber auch zu ande­ren Anfalls­ar­ten, haben aber eine weit­aus bes­se­re Pro­gno­se bezüg­lich Kogni­ti­on, The­ra­pier­bar­keit und Anfalls­häu­fig­keit.

Ver­lauf & Begleit­sym­pto­me

Die Aus­prä­gun­gen und der Ver­lauf der Krank­heit sind viel­fäl­tig und indi­vi­du­ell. Die Ent­wick­lung des Kin­des zeigt sich meist nor­mal bis zum Aus­bruch der Krank­heit. Im Ver­lauf der Erkran­kung ver­lang­samt sich die Ent­wick­lung in den meis­ten Fäl­len. Beson­ders fällt hier die Sprach­ent­wick­lung auf. Eine Ver­laufs­pro­gno­se ist schwie­rig: Die Häu­fig­keit der Anfäl­le und deren Inten­si­tät sind so indi­vi­du­ell, dass nicht vor­her­sag­bar ist, wie sich das Kind ent­wi­ckeln wird. Es gilt jedoch grund­sätz­lich: je weni­ger Anfäl­le, umso bes­ser. Es gibt Kin­der, die durch Medi­ka­men­te gut ein­ge­stellt wer­den kön­nen und nur mit leich­ten Beein­träch­ti­gun­gen leben müs­sen. Die Regel sieht aktu­ell jedoch lei­der anders aus.

Kin­der mit einem Dra­vet-Syn­drom lei­den oft auch an zusätz­li­chen Sym­pto­men, wel­che einer adäqua­ten Behand­lung bedür­fen. Nicht alle Sym­pto­me tre­ten bei jedem Kind in Erschei­nung bzw. kön­nen sehr unter­schied­lich stark aus­ge­prägt sein. Mög­li­che Begleit­sym­pto­me des Dra­vet-Syn­droms sind:

  • psy­cho­ge­ne Stö­run­gen
  • Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten: oppo­si­tio­nel­les Ver­hal­ten, Aggres­sio­nen, Per­se­ve­ra­ti­on (krank­haf­tes Behar­ren)
  • Wahr­neh­mungs- und Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen (bspw. AD(H)S, Autis­mus)
  • Lern­stö­run­gen
  • Demenz
  • oft ver­zö­ger­te, sel­ten kei­ne Sprach­ent­wick­lung
  • Schlaf­stö­run­gen
  • moto­ri­sche Stö­run­gen
  • mus­ku­lä­re Hypo­to­nie (nied­ri­ger Mus­kel­to­nus), aber auch Spas­tik (=erhöh­ter Mus­kel­to­nus)
  • Ata­xie (= Stö­rung der Bewe­gungs­ko­or­di­na­ti­on)
  • breit­ba­si­ges Gang­bild, Stand­un­si­cher­heit, Gleich­ge­wichts­pro­ble­me, Unfä­hig­keit der ziel­ge­rich­te­ten Hand- bzw. Fin­ger­be­we­gung
  • Hypo­mi­mie (her­ab­ge­setz­te Mimik), beson­ders im Mit­tel­ge­sichts­be­reich
  • chro­ni­sche Infek­te (oft der obe­ren Atem­we­ge)

Wel­che Sym­pto­me durch das Dra­vet-Syn­drom oder durch ver­ab­reich­te Medi­ka­men­te ver­ur­sacht sind, ist nicht bei allen Sym­pto­men ein­deu­tig. Alles in allem han­delt es sich um eine mehr oder min­der deut­li­che psy­cho­mo­to­ri­sche Retar­die­rung.

Anfalls­for­men

Es gibt unter­schied­li­che Anfalls­for­men. Die­se kön­nen ein­zeln auf­tre­ten oder in Kom­bi­na­ti­on. Typisch für das Dra­vet-Syn­drom ist, dass sich Anfäl­le häu­fig nicht ein­deu­tig zuord­nen las­sen. Des­halb ist für Eltern nicht vor­ran­gig wich­tig, jeden Anfall rich­tig ein­zu­ord­nen bzw. benen­nen zu kön­nen, son­dern jeden Anfall genau zu beob­ach­ten. Die­se Punk­te soll­te man nach einem Anfall dem Neu­ro­lo­gen beant­wor­ten kön­nen:

  • Dau­er des Anfalls in Minu­ten
  • Wann wur­den wel­che Medi­ka­men­te in wel­cher Dosie­rung gege­ben?
  • Bewusst­sein: klar, ver­lang­samt oder nicht vor­han­den?
  • Mus­kel­to­nus: ver­krampft, schlaff oder rhyth­misch bzw. nicht rhyth­misch zuckend
  • Wel­che Mus­kel­grup­pen sind wie betrof­fen?
  • Zucken die Mus­kel­grup­pen evtl. in unter­schied­li­chem Rhyth­mus?
  • Ver­än­der­te sich der Krampf im Ver­lauf? Even­tu­ell wenn mög­lich Video­auf­nah­me wäh­rend des Kramp­fes erstel­len

Der Vor­teil einer genau­en Krampf­be­schrei­bung ist, dass sich der Neu­ro­lo­ge ein bes­se­res Bild von den Anfäl­len machen kann und damit evtl. grö­ße­re Chan­cen bestehen, ein geeig­ne­tes Medi­ka­ment zu fin­den. Die Anfalls­for­men wer­den laut der Inter­na­tio­na­len Liga gegen Epi­lep­sie (ILAE) unter­schie­den in:

  • Foka­le Anfäl­le:
    • Das Anfalls­ge­sche­hen fin­det in einer umschrie­be­nen Regi­on der Hirn­rin­de statt.
    • Nur Tei­le des Kör­pers sind vom Anfall betrof­fen (bspw. nur der rech­te Arm), das Kind ist meist bei Bewusst­sein; foka­le Anfäl­le dau­ern oft län­ger als gene­ra­li­sier­te; ACH­TUNG: auch foka­le Anfäl­le kön­nen in einen Sta­tus Epi­lep­ti­cus über­ge­hen und müs­sen unter­bro­chen wer­den! Im Zwei­fel Not­ruf wäh­len!
    • Nach foka­len Anfäl­len, kön­nen kurz­fris­ti­ge, vor­über­ge­hen­de Läh­mun­gen der vom Krampf betrof­fe­nen Extre­mi­tät auf­tre­ten. Die­se Läh­mun­gen kön­nen Minu­ten bis Stun­den anhal­ten, sind aber immer kom­plett rever­si­bel. Die­se Läh­mungs­er­schei­nun­gen wer­den Todd´sche Läh­mung oder Todd´sche Pare­se genannt. Wei­ter­hin gibt es mul­ti­fo­ka­le Anfäl­le, die nur bei genau­er Beobachtung von den klo­ni­schen gene­ra­li­sier­ten Anfäl­len unter­schie­den wer­den kön­nen. Bei einem mul­ti­fo­ka­len Anfalls­ge­sche­hen zucken die betrof­fe­nen Area­le in unter­schied­li­chem Rhyth­mus bzw. in unter­schied­li­cher Stär­ke. Bei einem gene­ra­li­sier­ten klo­ni­schen Anfall zucken alle Extre­mi­tä­ten in glei­chem Rhyth­mus und in glei­cher Stär­ke.
  • Gene­ra­li­sier­te Anfäl­le:
    • Das Anfalls­ge­sche­hen fin­det im gesam­ten Hirn statt.
    • Es gibt hier­bei ver­schie­de­ne Anfalls­qua­li­tä­ten, die nicht nur in ihrer rei­nen Form auf­tre­ten, son­dern auch kom­bi­niert:
      • tonisch = ver­kramp­fend
      • klo­nisch = rhyth­misch zuckend
      • ato­nisch = schlaff
      • Absen­cen = kur­zer Bewusst­seins­ver­lust, kur­zes Inne­hal­ten der Bewe­gung, danach Fort­füh­ren der vor­he­ri­gen Tätig­keit
      • Myo­klo­ni­en = plötz­lich auf­tre­tend, kur­ze Dau­er, kei­ne Bewusst­seins­stö­rung, gern sym­me­trisch auf­tre­tend (z.B. Schul­ter­gür­tel beid­seits)

Anfalls­aus­lö­ser

Der häu­figs­te Anfalls­aus­lö­ser bei klei­nen Kin­dern ist eine rasche Ver­än­de­rung der Kör­per­tem­pe­ra­tur. Der Tem­pe­ra­tur­un­ter­schied kann unter 1°C lie­gen, die Ver­än­de­rung muss nur sehr schnell von­stat­ten gehen. Auch bei nor­ma­ler Kör­per­tem­pe­ra­tur kann es zu Krampf­an­fäl­len durch Kör­per­tem­pe­ra­tur­sprün­ge kom­men, z.B. aus dem Schlaf her­aus, wenn die Kör­per­kern­tem­pe­ra­tur bei 36,4°C liegt. Häu­fi­ge Anfalls­aus­lö­ser sind:

    • Bade­was­ser über 37 °C
    • deut­li­cher Tem­pe­ra­tur­un­ter­schied zwi­schen Innen- und Außen­tem­pe­ra­tur
    • Außen­tem­pe­ra­tu­ren ab 30°C
    • unan­ge­mes­se­ne Klei­dung (zu warm bzw. zu leicht ange­zo­gen)
    • Fie­ber­an­stieg, aber auch schnel­les Fie­be­r­en­de
    • kör­per­li­che Belas­tung
    • Emo­tio­nen (Freude/​ Wut/​Aufregung)
    • Über­mü­dung
    • Stress /​Lärm / gro­ße Men­schen­men­gen
    • Infek­te (auch ohne Tem­pe­ra­tur­schwan­kun­gen)
    • schnel­ler Licht-/Schat­ten­wech­sel oder blin­ken­des Kin­der­spiel­zeug (Fotosensibilität=Lichtempfindlichkeit) Fernsehen/​ Com­pu­ter, Stro­bo­skop (z.B. Dis­ko­licht)
    • wie­der­keh­ren­de Mus­ter (Mus­ter­sen­si­bi­li­tät)

Es kön­nen jedoch auch Anfäl­le ohne jeg­li­che Aus­lö­ser auf­tre­ten. Nicht alle Trig­ger lösen bei jedem Kind Anfäl­le aus. Man­chen anfalls­aus­lö­sen­den All­tags­si­tua­tio­nen kann man nicht aus dem Weg gehen. Ande­ren wie­der­um soll­te man auch nicht aus dem Weg gehen, weil sie für die Ent­wick­lung des Kin­des wich­tig sind (Emo­tio­nen, Sozia­li­sie­rung in einer Spiel­grup­pe, Freun­de tref­fen, Kin­der­gar­ten, Schu­le).

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