Der sechzehnjährige Kimetz aus Lübeck hatte seinen ersten Anfall mit acht Monaten. Mit knapp zwei Jahren wurde bei ihm das Dravet-Syndrom diagnostiziert. Seine Eltern Miriam und Zigor teilen seine Geschichte.
Könnt Ihr uns etwas über Kimetz erste Anfälle erzählen? Wie habt Ihr sie bemerkt und wie darauf reagiert?
Die ersten Anfälle traten im Zusammenhang mit Fieber und als erste Anzeichen eines Infekts auf. Der allererste Anfall fand eines Tags im April 2009 nach dem Mittagessen statt. Nach den Zuckungen blieb Kimetz regungslos liegen und Papa Zigor fing an, ihn zu beatmen, während Mama Miriam den Rettungsdienst rief. Die Sanitäter schickten Kimetz dann per Hubschrauber ins circa 50 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Bilbao. Das war alles sehr aufregend. Es hat ein paar Tage gedauert, bis wir uns von diesem Schock erholt hatten. Da Kimetz gleichaltriger Cousin als Baby auch mal einen einzelnen Fieberkrampf gehabt hatte, waren wir dennoch guter Dinge.
Wann und wie wurde bei Kimetz das Dravet-Syndrom diagnostiziert? Gab es spezifische Anzeichen, die zur Diagnose geführt haben?
Da das Dravet-Syndrom damals unter den Kinder-Neurologen im spanischen Baskenland irgendwie in Mode war, stand diese Diagnose von Anfang an im Raum. Kimetz erhielt nach der dritten Fieberkrampf-Episode vorsorglich Depakine und wurde neurologisch überwacht. Ein Notarzt meinte bereits zu Beginn, dass es sich um mehr als Fieberkrämpfe handeln müsse, da sie für ihn untypisch aussahen. Kimetz krampfte beispielsweise nicht nur bei Fieber, sondern auch aufgrund der Eisbehandlung durch eine Rettungssanitäterin.
Nach weiteren Fieberkrämpfen, die innerhalb eines Infekts vermehrt auftraten und länger dauerten bzw. sich nicht durch Notfallmedikamente durchbrechen ließen, kam es zu mehreren Notaufnahme- und Krankenhausaufenthalten. Bei einem dieser Aufenthalte erlitt Kimetz einen Atemstillstand nach der Verabreichung von Phenytoin, was zur Durchführung eines Gentests führte.
Zeitgleich wurden Kimetz die Polypen entfernt, was seine allgemeine Gesundheit, insbesondere in Bezug auf Erkältungen, verbesserte. Kurz darauf tauchte bei ihm die zweite Anfallsart auf: Myoklonien. Die Neurologin veränderte daraufhin die Therapie und führte Phenobarbital ein. Unter diesem Medikament verschlechterte sich Kimetz Zustand drastisch; er konnte kaum noch gehen. Nach dem Absetzen des Medikaments besserte sich sein Zustand zum Glück wieder. Wir waren jedoch nicht darüber informiert, dass solche Nebenwirkungen auftreten und dass sie auch ein Anzeichen für das Dravet-Syndrom sein können, da dieses Medikament bei Dravet ja kontraindiziert ist.
Wir haben uns zu dieser Zeit große Sorgen gemacht und konnten nicht verstehen, warum die Neurologen beim Verdacht auf Dravet-Syndrom mit den Medikamenten experimentierten, bevor das Ergebnis des Gentests vorliegt. Als die Diagnose schließlich feststand, waren wir einerseits erleichtert, weil wir nun wussten, was mit unserem Jungen los ist, und andererseits traurig, unsicher und besorgt.
Wie hat sich das Leben für euch als Familie seit der Diagnosestellung verändert?
Die Leichtigkeit und die Spontanität sind verschwunden – und punktuell wiederkehrt, als Kimetz und seine Schwestern ein gewisses Alter erreicht haben. Mama Miriam ist länger in Elternzeit geblieben als geplant, aus anderthalb wurden zweieinhalb Jahre. Situationen, Vorhaben und Umgebungen werden auf die Tauglichkeit für Kimetz abgecheckt und dann je nachdem erlebt oder vermieden.
Welche Herausforderungen stellen sich im Alltag mit einem Kind mit Dravet-Syndrom?
Herausforderungen gibt es viele. Diese entstehen zum Beispiel durch neue Anfallsarten, die plötzlich hinzukommen. Kimetz starke Mustersensibilität ist erstmals auf einer Kommunion aufgetreten, als er das Nadelstreifenhemd eines Verwandten betrachtet hat. Seitdem passen wir unsere Lebensweise und ‑umgebung ständig daran an. Unsere Leinengardinen haben wir damals abgenommen, als ihre Struktur Kimetz triggerte. Wir haben aber auch Grenzen gezogen: als die Mustersensibilität auch bei Jeansstoff anfing, beschlossen wir, nicht alles aus unserem Leben entfernen zu können.
Gibt es andere Dinge, auf die ihr wegen Kimetz verzichtet?
Ja, man verzichtet zum Wohle des Dravet-Kindes auf vieles. Wir hören kaum noch Musik, da diese Kimetz ebenfalls triggert, beziehungsweise richten sie nach seiner Tagesform. Wir brechen Ausflüge ab, wenn es zu heiß ist; wir verlassen Feiern, weil es zu voll und laut ist.
Wie wirkt sich das auf das Familienleben aus?
Man verlangt sich selber und vor allem den Geschwisterkindern sehr viel Rücksicht ab. Dass diese nicht zu kurz kommen, darauf muss man sicher stärker aufpassen als Familien mit gesunden Kindern. Für Kimetz Schwestern Lena und Kayah ist es eine große Herausforderung, stets Rücksicht auf den großen Bruder zu nehmen, und das in allen Bereichen, sei es nur die Filmauswahl für einen gemeinsamen Filmabend.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen für euch als Eltern?
Für Mama Miriam ist gerade die größte Herausforderung, dass Kimetz Betreuung auf sie zurückfällt, wenn seine Schulbegleitung ausfällt und er deshalb nicht zur Schule darf. Ihre Arbeit, eigene Arzttermine oder Termine der Geschwister müssen dann umorganisiert werden. Kimetz Betreuung ist sehr intensiv: Er muss ständig beaufsichtigt und je nach Tagesform beschäftigt und abgelenkt werden. Im „Leerlauf“ sucht er sich ansonsten Muster, die bei ihm Anfälle auslösen. Für uns sind Krankenhausaufenthalte eine organisatorische und emotionale Belastung. Durch eine weitere genetische Erkrankung, dem Late-onset AGS hat Kimetz außerdem viele regelmäßige Arzt- und Therapietermine. Schlafmangel ist für uns ein großes Problem, wenn er nächtliche Anfälle hat.
Wie geht Ihr als Eltern mit den emotionalen Belastungen um, die mit der Betreuung eines Kindes mit einer schweren neurologischen Erkrankung einhergehen?
Wir versuchen, den Stress durch Sport und Yoga loszuwerden. Das SUDEP-Risiko „ignorieren“ wir wissentlich, um damit leben zu können. Früher waren uns Kimetz „seltsame“ Verhaltensweise in der Öffentlichkeit unangenehm, inzwischen ist uns das egal. Wir sind einfach stolz auf ihn. Uns hilft es, mit anderen Betroffenen oder lieben Menschen mit offenem Ohr zu reden. Leider können nicht alle Freunde und Verwandte damit umgehen. Einfach mal weinen, Wut und Trauer rauslassen, ist auch wohltuend. Versuchen, zwischen dem Kind und dem Syndrom zu differenzieren, um nicht sauer auf das Kind zu sein, wenn wegen des Dravet-Syndroms auf etwas verzichtet wird. Versuchen, ziemlich im Moment zu leben. Sich selber sagen, dass man es bei der Belastung eigentlich ganz gut gewuppt kriegt. Dankbar sein, wie gut wir medizinisch und pflegerisch in Deutschland versorgt sind.
Welche Art von Unterstützung und Behandlung erhält Kimetz für sein Dravet-Syndrom?
Kimetz erhält als medikamentöse Behandlung Frisium, Orfiril, Diacomit und Fycompa, also einen ganz schönen Cocktail. Wir sind viermal im Jahr mit ihm zur Kontrolle bei seiner Neurologin. Er geht wöchentlich zur Ergotherapie – die liebt er – und nun zweimal wöchentlich zur Physiotherapie. Einmal im Jahr fahren wir zu Dr. Hafkemeyer nach Coesfeld. Gerade hat Kimetz neue Einlagen bekommen, durch die er wieder aufrechter geht. In der Schule hat er eine Schulbegleitung. Über die Pflegeversicherung haben wir eine Putzentlastung und hatten jahrelang ein bis zwei Mal die Woche eine Betreuung über die Verhinderungspflege; das pausiert seit gut einem Jahr; hierfür jemand Neues zu finden, steht nun an. Kimetz trägt einen Helm als Kopfschutz bei (anfallsbedingten) Stürzen und hat für längere Strecken einen Rolli.
Wie geht es Kimetz jetzt?
Kimetz ist nun 16, ist also mitten in der Pubertät, worüber wir uns bei ihm freuen. Er zeigt seine Zuneigung, aber auch seinen Unmut sehr deutlich, hat aber meist gute Laune, mit der er andere Leute ansteckt. Aufgrund einer schweren Lungenentzündung zum Jahresanfang hat Kimetz‘ Kondition und Muskelspannung nachgelassen. Mit Physiotherapie versuchen wir, dem entgegenzuwirken, haben aber im Hinterkopf, dass die Verschlechterung bleiben beziehungsweise sich stärker ausprägen kann. Kognitiv hat sich Kimetz gut weiterentwickelt. Was die zeitlich-räumliche Orientierung und die Gesprächsführung angeht, sind wir sehr zufrieden. Seit Jahresende nimmt er abends Fycompa und krampft seitdem nicht mehr nachts in Serie. Dadurch schlafen wir wieder besser. Unterwegs kann Kimetz prima beobachten und das Beobachtete kommentieren. Er ist ein richtiger „Trainspotter“. Diese Aktivitäten schaffen sehr entspannte Situationen für uns, im Gegensatz zu früher, als er kleiner war und wir ständig hinter ihm herlaufen mussten. Inzwischen besucht Kimetz die AVK, die Arbeitsvorbereitungsklasse seiner Förderschule, und bald starten die ersten Praktika. Wir sind sehr gespannt, wie er sich da entwickelt.
Welche Hoffnung und Träume habt Ihr für die Zukunft von Kimetz?
Wir hoffen, eine gute Einrichtung für Kimetz zu finden, in der er würdig betreut wird. Idealerweise sollte diese Einrichtung naturnah gelegen sein, damit er sich mit Tieren beschäftigen und seinem Lieblingsthema Feuerwehr nachgehen kann. Außerdem wünschen wir uns, dass er in eine familienähnliche Gemeinschaft hineinwächst. Es ist uns auch wichtig, dass seine Schwestern immer für ihn da sein möchten und ihn unterstützen.
Welchen Rat möchtet ihr Familien auf den Weg geben, die erst vor kurzem die Diagnose Dravet erhalten haben?
Lasst euch von der Diagnose nicht unterkriegen und lasst euer Leben nicht vom Dravet-Syndrom beherrschen. Achtet auf eure eigene Gesundheit, macht Sport und pflegt ein Hobby.
Nehmt euch Zeit für euch selbst und als Paar. Organisiert von Anfang an Kinderbetreuung für das Dravet-Kind und eventuell auch Betreuung für die Geschwisterkinder. Es ist sehr wichtig, sich exklusiv Zeit für die Geschwisterkinder zu nehmen, damit sie sich nicht vernachlässigt fühlen. Wenn das Dravet-Kind euer erstes Kind ist, habt den Mut, weitere Kinder zu bekommen. Was SUDEP angeht: packt euer Kind nicht in Watte, sondern ermöglicht ihm und euch ein schönes Leben mit tollen Erinnerungen. Traut euch und eurem Kind etwas zu und seid mutig. Unternehmt zusammen so viele schöne Aktivitäten wie möglich – fahrt zum Beispiel mit auf die Familienfreizeit des Dravet-Syndrom e.V.
Habt ihr noch weitere Tipps?
Vernetzt euch auch mit anderen Dravet-Familien. Der Austausch kann sehr hilfreich und unterstützend sein. Nutzt frühzeitig Entlastungsangebote wie den Kupferhof, um mal durchzuschnaufen oder mit den Geschwisterkindern eine nicht Dravet-kompatible Reise zu unternehmen, bei der sie voll auf ihre Kosten kommen. Das gibt viel Kraft für den Alltag.
Herzlichen Dank für Eure Zeit und das ausführliche Interview!