In die­ser im Jahr 2017 durch­ge­führ­ten Online-Umfra­ge wur­den 128 Eltern und 120 Geschwis­tern von Erkrank­ten mit schwe­ren epi­lep­ti­schen Enze­pha­lo­pa­thien wie dem Dra­vet-Syn­drom und dem Lenn­ox-Gastaut-Syn­drom über die psy­chi­schen Ein­flüs­se der Erkran­kung auf die Geschwis­ter­kin­der befragt. Es zeig­ten sich unter­schied­li­che Wahr­neh­mun­gen ver­schie­de­ner belas­ten­der Sym­pto­me durch Geschwis­ter­kin­der und Eltern. Die Autoren schluss­fol­gern, dass eine erhöh­te Auf­merk­sam­keit und Erfas­sung des Unter­stüt­zungs­be­darfs der Geschwis­ter­kin­der nötig sei­en.


Lebens­qua­li­tät der Geschwis­ter von Kin­dern mit schwe­ren epi­lep­ti­schen Enze­pha­lo­pa­thien

Autoren: Bai­ley, Gam­mai­to­ni, Galer, Schwartz, Schad
Affi­lia­ti­on: Fir­ma Zoo­ge­nix in Zusam­men­ar­beit mit der Unver­si­ty of Washing­ton, USA
Ver­öf­fent­licht als Pos­ter beim Kon­gress der Ame­ri­can Epi­le­psy Socie­ty am 30.11.–4.12.2018 in New Orleans, USA, und als Pos­ter­abs­tract im Jour­nal of Child Neu­ro­lo­gy 2018; 33 (9): S. 625.

ZUSAM­MEN­FAS­SUNG

HIN­TER­GRUND: Die Arbeits­grup­pe Bai­ley et al. unter­such­te den Ein­fluss von schwe­ren epi­lep­ti­schen Enze­pha­lo­pa­thien des Kin­des­al­ters wie dem Dra­vet-Syn­drom und dem Lenn­ox-Gastaut-Syn­drom auf die Lebens­qua­li­tät von Geschwis­ter­kin­dern. Die­se For­schung ist nach Ansicht der Autoren not­wen­dig, weil die Sor­ge um die Lebens­qua­li­tät der Geschwis­ter­kin­der die zweit­größ­te Sor­ge der haupt­ver­sor­gen­den Per­so­nen dar­stellt (Vil­las et al. 2017) und bis­her noch nicht umfas­send unter­sucht wur­de.

METHO­DISCH wur­de eine Online-Umfra­ge in Zusam­men­ar­beit mit Eltern von Kin­dern mit Dra­vet-Syn­drom oder Lenn­ox-Gastaut Syn­drom ent­wi­ckelt und zunächst in einer Beta-Ver­si­on getes­tet. Die end­gül­ti­gen Fra­gen wur­den zwi­schen Juli und Dezem­ber 2017 Eltern und Geschwis­tern unter­brei­tet, die über sozia­le Medi­en sowie Web­sei­ten und Ver­an­stal­tun­gen von Eltern­in­itia­ti­ven rekru­tiert wur­den. Die Umfra­ge umfass­te Fra­gen zur Lebens­qua­li­tät, zu depres­si­ver Stim­mungs­la­ge und zu Angst­sym­pto­men. Die Teil­neh­mer wur­den in vier Grup­pen kate­go­ri­siert:
1. Geschwis­ter im Alter zwi­schen 9–12 Jah­ren, 2. Geschwis­ter im Alter zwi­schen 13–17 Jah­ren, 3. Geschwis­ter älter als 18 Jah­re und 4. Eltern. Die Fra­gen wur­den ins­ge­samt von 128 Eltern und 120 Geschwis­tern beant­wor­tet, deren Ange­hö­ri­ge in 47 Fäl­len ein Dra­vet-Syn­drom, in 13 Fäl­len ein Lenn­ox-Gastaut-Syn­drom und in 55 eine ande­re Form einer schwe­ren enze­pha­lo­pa­thi­schen Epi­lep­sie des Kin­des­al­ters hat­ten (Daten der Eltern­be­fra­gung). Bei den Eltern beant­wor­te­ten zum über­wie­gen­den Teil die Müt­ter die Fra­ge­bö­gen, sie kom­men­tier­ten dar­in den Ein­fluss auf zu 46% weib­lich und im Durch­schnitt 12 Jah­re alte Geschwis­ter­kin­der. Die erkrank­ten Kin­der die­ser Eltern waren zu 47% weib­lich und durch­schnitt­lich 10 Jah­re alt. Bei den Geschwis­ter­kin­dern beant­wor­te­ten am häu­figs­ten 79 erwach­se­ne Geschwis­ter­kin­der die Fra­gen, nur vier­und­zwan­zig 9–12-jährige und nur sieb­zehn 13–17-jährige nah­men teil. Das Durch­schnitts­al­ter der teil­neh­men­den Geschwis­ter war 24 Jah­re, ihre erkrank­ten Geschwis­ter waren im Durch­schnitt 16 Jah­re alt.

IM ERGEB­NIS nah­men Eltern mehr als 20% weni­ger Angst- und Depres­si­ons­sym­pto­me bei den gesun­den Geschwis­ter­kin­dern wahr als die­se sel­ber berich­te­ten. Bzgl. der Angst­sym­pto­me gaben in allen Alters­grup­pen (mit Aus­nah­me der 13–17-jährigen Geschwis­ter) mehr als die Hälf­te der Geschwis­ter eine erhöh­te Schreck­haf­tig­keit an, am häu­figs­ten war die Schreck­haf­tig­keit bei den jüngs­ten Geschwis­tern im Alter von 9–12 Jah­ren. Auch depres­si­ve oder mür­ri­sche Stim­mung war in den o.g. Alters­grup­pen bei mehr als der Hälf­te der gesun­den Geschwis­ter vor­han­den. Das Stress­ni­veau und die Besorgt­heit wur­den von den Eltern höher ein­ge­schätzt als von den Geschwis­tern sel­ber. Trau­rig­keit und Wut über die Dia­gno­se des kran­ken Geschwis­ters waren bei jün­ge­ren Geschwis­tern eher im nied­ri­gen Bereich einer Ska­la zwi­schen 0 und 10 ange­sie­delt. Die Sor­ge um die Auf­merk­sam­keit der Eltern war bei 50% jün­ge­ren Geschwis­tern vor­han­den, bei älte­ren Geschwis­tern mit 29 bzw. 33% sel­te­ner, und wur­de von 56% der Eltern wahr­ge­nom­men. Das Unbe­ha­gen, mit ande­ren über die Dia­gno­se des erkrank­ten Kin­des zu spre­chen, war bei den jün­ge­ren Geschwis­tern bei 42% vor­han­den, mit 88% in der Grup­pe der 13–17-jährigen am größ­ten, aber auch 68% erwach­se­ne Geschwis­ter und 71% Eltern hat­ten Schwie­rig­kei­ten damit.

SCHLUSS­FOL­GE­RUNG: Die Autoren schluss­fol­gern, dass Eltern sich um den emo­tio­na­len Ein­fluss der Erkran­kung des Kin­des mit schwe­rer enze­pha­lo­pa­thi­scher Epi­lep­sie auf die gesun­den Geschwis­ter sor­gen. Sie beto­nen, dass bei den Geschwis­tern und den Eltern unter­schied­li­che Wahr­neh­mun­gen bzgl. depres­si­ver und ängst­li­cher Sym­pto­me, Trau­er und Wut, Besorgt­heit und Stress, Auf­merk­sam­keits­zu­wen­dung und Unbe­ha­gen, über die Erkran­kung zu spre­chen, exis­tie­ren. Sie schluss­fol­gern, dass eine erhöh­te Auf­merk­sam­keit und Erfas­sung des Unter­stüt­zungs­be­darfs der Geschwis­ter­kin­der nötig sei. Ärz­te soll­ten die Aus­wir­kun­gen der Erkran­kung auf die Geschwis­ter mit den Eltern dis­ku­tie­ren. Schließ­lich for­dern die Autoren ver­mehr­te For­schung, um von depres­si­ven und ängst­li­chen Sym­pto­men betrof­fe­ne Geschwis­ter­kin­der bes­ser erken­nen zu kön­nen und Inter­ven­tio­nen zu fin­den, mit denen sie bes­ser unter­stütz wer­den kön­nen.

KOM­MEN­TAR UND EIN­ORD­NUNG: Die­se Stu­die belegt in Mess­wer­ten, was Eltern von Kin­dern mit Dra­vet-Syn­drom aus eige­ner Anschau­ung ken­nen, näm­lich dass die Sor­ge um den Ein­fluss der Erkran­kung auf die Ent­wick­lung der Geschwis­ter des erkrank­ten Kin­des ein hoch­re­le­van­tes The­ma für die betrof­fe­nen Fami­li­en dar­stellt.
Für mich liegt ein beson­de­rer Wert und Ver­dienst die­ser Stu­die dar­in, die­ses The­ma in die wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on und Auf­merk­sam­keit der For­scher zu brin­gen. Dar­über­hin­aus­ge­hen­de Inter­pre­ta­tio­nen erlaubt das metho­di­sche Niveau die­ser Unter­su­chung kaum. Ange­fan­gen von der Aus­wahl der Unter­su­chungs­in­stru­men­te über die Aus­wahl und Rekru­tie­rung der Stu­di­en­teil­neh­mer bis zur Metho­dik der Aus­wer­tung bie­tet die Unter­su­chung vie­le Kri­tik­punk­te. Am meis­ten stört mich das Feh­len einer Bezugs- oder Kon­troll­stich­pro­be in nicht betrof­fe­nen Fami­li­en. Durch das Feh­len die­ser Bezugs­stich­pro­be fehlt den Mess­wer­ten jede Rela­ti­on, man weiß gar nicht, ob der gemes­se­ne Wert viel oder wenig bedeu­tet. Auf den All­tag über­tra­gen wäre es, als wenn jemand sagen wür­de: „Karl ist 34 groß“, aber dabei die Maß­ein­heit ver­ges­sen wür­de. 34 in Metern wäre ziem­lich groß, in Zen­ti­me­tern ziem­lich klein. Wie die Mess­wer­te die­ser Stu­die im Bezug zu ande­ren Fami­li­en ein­zu­ord­nen sind, was mög­li­cher­wei­se ein nor­ma­les Niveau dar­stellt, was ein erhöh­ter oder ernied­rig­ter Wert ist bleibt daher unklar.
Trotz der metho­di­schen Kri­tik freue ich mich dar­über, dass sich die For­schung des The­mas der Ent­wick­lung der Geschwis­ter­kin­der annimmt. Ich neh­me aus die­ser Stu­die mit, dass Eltern ver­stärkt auf depres­si­ve und ängst­li­che Sym­pto­me von Geschwis­tern bis zum 12. Lebens­jahr ach­ten soll­ten, da die­se in der Unter­su­chung von Eltern deut­lich unter­schätzt wur­den. Bezüg­lich der Besorgt­heit und des Stress­ni­veaus von Geschwis­ter­kin­dern kön­nen sich Eltern etwas ent­span­nen, die­ses wur­de von ihnen eher über­schätzt. Wich­tig scheint mir zu sein, dass die Ent­wick­lung der Geschwis­ter­kin­der in den betrof­fe­nen Fami­li­en über­haupt ange­spro­chen wird und die gesun­den Geschwis­ter­kin­der bemer­ken, dass ihre Stim­mun­gen und Ängs­te von den Eltern wahr­ge­nom­men und ernst­ge­nom­men wer­den.

Prof. Dr. Cars­ten Kon­rad