Wenn vom Dra­vet-Syn­drom die Rede ist, den­ken vie­le zuerst an epi­lep­ti­sche Anfäl­le. Sie sind oft dra­ma­tisch, poten­zi­ell lebens­be­droh­lich und das sicht­bars­te Merk­mal der Erkran­kung. Doch eine neue euro­päi­sche eth­no­gra­fi­sche Stu­die zeigt: Das Leben mit Dra­vet besteht aus weit mehr als Anfäl­len. Es ist geprägt von dau­er­haf­ten, oft unsicht­ba­ren Belas­tun­gen – und von einem All­tag, der sich mit dem Älter­wer­den der Kin­der immer wie­der neu ord­nen muss.

Die Stu­die wirft einen unge­wöhn­lich nahen Blick auf das soge­nann­te „Dra­vet-Öko­sys­tem“. Die For­schen­den frag­ten nicht nur nach Erfah­run­gen, son­dern beglei­te­ten Fami­li­en in ihrem All­tag: zu Hau­se, bei Arzt­ter­mi­nen, in The­ra­pien und im Umgang mit Unter­stüt­zungs­struk­tu­ren. So ent­stand ein dif­fe­ren­zier­tes Bild davon, was Fami­li­en in ver­schie­de­nen Pha­sen tat­säch­lich brau­chen – und wo bestehen­de Sys­te­me an ihre Gren­zen sto­ßen.

Wor­um ging es in der Stu­die?

Unter­sucht wur­den Per­spek­ti­ven aus fünf euro­päi­schen Län­dern: Frank­reich, Deutsch­land, Ita­li­en, Spa­ni­en und dem Ver­ei­nig­ten König­reich. Betei­ligt waren Fami­li­en, medi­zi­ni­sche Fach­per­so­nen sowie Vertreter:innen von Patient:innenorganisationen.

Kon­kret umfass­te die Stu­die:

  • fünf Fami­li­en (ins­ge­samt sie­ben Eltern) mit Kin­dern im Alter von zwei bis zehn Jah­ren,

  • 21 Fach­per­so­nen aus spe­zia­li­sier­ten Epi­lep­sie-Zen­tren,

  • 16 Vertreter:innen von Patient:innenorganisationen.

Im Mit­tel­punkt stan­den nicht Medi­ka­men­te oder Wirk­sam­keits­da­ten, son­dern das geleb­te Leben mit Dra­vet: emo­tio­na­le Belas­tun­gen, Ent­schei­dungs­pro­zes­se, Ängs­te, Res­sour­cen, Unter­stüt­zungs­an­ge­bo­te – und die Lücken dazwi­schen.

Mehr als Anfäl­le: sicht­ba­re und unsicht­ba­re Belas­tun­gen

Die Autor:innen beschrei­ben Dra­vet als eine Erkran­kung mit dyna­mi­schem Ver­lauf. Anfalls­for­men ver­än­dern sich, die Ent­wick­lung ver­läuft häu­fig nicht line­ar, und zusätz­li­che Her­aus­for­de­run­gen gewin­nen an Bedeu­tung: Schlaf­pro­ble­me, moto­ri­sche Ein­schrän­kun­gen, Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten, Kom­mu­ni­ka­ti­on, Selbst­stän­dig­keit.

Für vie­le Fami­li­en bedeu­tet das einen stän­di­gen Per­spek­tiv­wech­sel. In den ers­ten Jah­ren domi­niert der Aus­nah­me­zu­stand: Angst, Not­fäl­le, Fie­ber, die Sor­ge ums Über­le­ben. Mit der Zeit rücken ande­re Fra­gen in den Vor­der­grund: Wie gelingt der All­tag in Kita oder Schu­le? Wel­che The­ra­pien sind sinn­voll? Wie bleibt die Fami­lie als Gan­zes sta­bil? Und wie lässt sich eine Zukunft pla­nen, die von Unsi­cher­heit geprägt ist?

Eltern im Zen­trum: Das Dra­vet-Sys­tem ent­steht oft in Eigen­re­gie

Ein zen­tra­les Ergeb­nis der Stu­die: Eltern sind nicht nur emo­tio­nal, son­dern auch orga­ni­sa­to­risch das Dreh- und Angel­punkt des gesam­ten Ver­sor­gungs­sys­tems. Vie­le berich­ten, dass sie ihr Netz­werk müh­sam selbst auf­bau­en müs­sen – pas­sen­de Ärzt:innen, The­ra­pien, Hilfs­mit­tel, Bil­dungs­an­ge­bo­te, Anträ­ge, Pfle­ge- und Ent­las­tungs­struk­tu­ren.

Drei Berei­che prä­gen den All­tag beson­ders stark:

Gesell­schaft und Finan­zen
Vie­le Fami­li­en gera­ten unter finan­zi­el­len Druck, etwa weil ein Eltern­teil sei­ne Erwerbs­tä­tig­keit redu­zie­ren oder ganz auf­ge­ben muss. Hin­zu kom­men Kos­ten für The­ra­pien, Hilfs­mit­tel oder not­wen­di­ge Anpas­sun­gen im All­tag. Selbst Urlau­be wer­den oft zur medi­zi­ni­schen und finan­zi­el­len Her­aus­for­de­rung.

All­tag und Ver­sor­gung
Der Zugang zu spe­zia­li­sier­ten Ange­bo­ten ist regio­nal sehr unter­schied­lich. Eini­ge Fami­li­en füh­len sich im loka­len Sys­tem allein gelas­sen und fin­den Unter­stüt­zung vor allem über ande­re Eltern oder Selbst­hil­fe­or­ga­ni­sa­tio­nen. Auf­fäl­lig: Sozi­al­ar­bei­te­ri­sche oder psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe ist häu­fig nicht auto­ma­tisch ein­ge­bun­den, son­dern muss aktiv ein­ge­for­dert wer­den.

Fami­li­en­dy­na­mik
Dra­vet ver­än­dert gan­ze Fami­li­en­sys­te­me: Rol­len­ver­tei­lun­gen, Part­ner­schaf­ten, das Leben von Geschwis­tern, Wohn­si­tua­tio­nen und Zukunfts­vor­stel­lun­gen. Vie­le Eltern beschrei­ben den Wunsch, dass nicht „alles nur noch Dra­vet“ ist – und gleich­zei­tig die Erfah­rung, dass die Erkran­kung stän­dig prä­sent bleibt.

Ein Weg in Etap­pen: Wie sich Bedürf­nis­se über die Zeit ver­än­dern

Beson­ders anschau­lich ist das Pha­sen­mo­dell der Stu­die. Es beschreibt typi­sche Etap­pen, die vie­le Fami­li­en durch­lau­fen – ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit oder Gleich­för­mig­keit:

  • der ers­te Anfall, oft als trau­ma­ti­sches Erleb­nis,

  • eine lan­ge Pha­se der Dia­gno­se­su­che mit Unsi­cher­heit und Infor­ma­ti­ons­hun­ger,

  • die Dia­gno­se selbst, die Erleich­te­rung und Schock zugleich sein kann,

  • eine schmerz­haf­te Neu­ord­nung des Lebens,

  • ein lan­ges „Tri­al-and-Error“ mit The­ra­pien, Neben­wir­kun­gen und Anpas­sun­gen,

  • eine gewis­se Sta­bi­li­sie­rung, ohne dass alles „gut“ wäre,

  • fort­lau­fen­de Anpas­sun­gen von Hilfs­mit­teln, Schu­le und Ver­sor­gung,

  • sowie neue Her­aus­for­de­run­gen in der Ado­les­zenz und beim Über­gang ins Erwach­se­nen­al­ter.

Ein Satz aus der Stu­die bringt die Dia­gno­se-Situa­ti­on vie­ler Eltern auf den Punkt: Der Moment, in dem sich die Pra­xis­tür schließt, mar­kiert für vie­le „den Beginn des Abgrunds“ – weil dann der All­tag mit all sei­nen offe­nen Fra­gen beginnt.

Bewäl­ti­gung ist dyna­misch: Vier typi­sche Hal­tun­gen

Die Stu­die beschreibt vier typi­sche Bewäl­ti­gungs­sti­le, die Eltern im Ver­lauf ein­neh­men kön­nen. Ent­schei­dend ist: Es han­delt sich nicht um fes­te Kate­go­rien, son­dern um Bewe­gun­gen. Vie­le Eltern wech­seln je nach Pha­se, Belas­tung und Unter­stüt­zung zwi­schen ihnen.

  • Casta­way: Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Über­for­de­rung, häu­fig zu Beginn

  • Gate­kee­per: star­ker Kon­troll- und Schutz­mo­dus

  • Per­so­nal Assistant: Eltern als Manager:innen eines kom­ple­xen Sys­tems

  • Maes­tro: ein trag­fä­hi­ges Netz­werk erlaubt mehr Dele­ga­ti­on und Ver­trau­en

Die zen­tra­le Bot­schaft: Rück­schrit­te in Kri­sen­zei­ten sind nor­mal. Sta­bi­li­tät ent­steht nicht durch indi­vi­du­el­les „Durch­hal­ten“, son­dern durch ver­läss­li­che Unter­stüt­zung.

Vier Ansatz­punk­te für ein „dra­vet-taug­li­ches“ Sys­tem

Aus den Ergeb­nis­sen lei­ten die Autor:innen vier Hand­lungs­fel­der ab:

  1. Den Schock abfe­dern
    Unter­stüt­zung soll­te von Anfang an ganz­heit­lich sein – medi­zi­nisch, emo­tio­nal und orga­ni­sa­to­risch. Eltern brau­chen bei der Dia­gno­se kei­ne Infor­ma­ti­ons­flut, son­dern pas­sen­de Beglei­tung.

  2. Zuver­läs­si­ge Infor­ma­tio­nen ver­net­zen
    Vie­le Fami­li­en suchen in hoch­be­las­te­ten Pha­sen online nach Ori­en­tie­rung. Hier braucht es bes­ser abge­stimm­te, ver­trau­ens­wür­di­ge Ange­bo­te zwi­schen Kli­ni­ken, Selbst­hil­fe und loka­len Struk­tu­ren.

  3. Eine anfalls­be­rei­te Gesell­schaft schaf­fen
    Stig­ma und Unsi­cher­heit im Umfeld erschwe­ren Teil­ha­be. Schu­lun­gen und Akzep­tanz in Kitas, Schu­len und im öffent­li­chen Raum könn­ten Fami­li­en deut­lich ent­las­ten.

  4. Unter­stüt­zung als Lebens­weg den­ken
    Dra­vet ist kein Sprint, son­dern ein Mara­thon. Hil­fe muss lang­fris­tig, fle­xi­bel und anpas­sungs­fä­hig sein – auch mit Blick auf die psy­chi­sche Gesund­heit der Eltern.

Was Fami­li­en aus der Stu­die mit­neh­men kön­nen

Die Ergeb­nis­se machen vor allem eines deut­lich: Vie­le Reak­tio­nen von Eltern sind nach­voll­zieh­ba­re Ant­wor­ten auf eine außer­ge­wöhn­lich belas­ten­de Rea­li­tät. Bedürf­nis­se ver­än­dern sich – und das ist legi­tim.

Oder, ganz prak­tisch:

  • Nie­mand soll­te das Sys­tem allein bau­en müs­sen, auch wenn es sich oft so anfühlt.

  • Psy­chi­sche Belas­tung ist kein Rand­the­ma, son­dern Teil der Erkran­kung.

  • Schwan­ken zwi­schen Kon­trol­le und Los­las­sen ist nor­mal.

  • Gute Ver­sor­gung bedeu­tet mehr als Anfalls­kon­trol­le: Sie umfasst All­tag, Ent­wick­lung, Teil­ha­be und Fami­lie.

 

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